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Freitag, 6. April 2018

Über den Müßiggang 2

Morning Sheets by Chelsea Bentley James

Da mir das Bedingungslose Grundeinkommen (BGE) und die Frage nach gesellschaftlichem Wandel gerade sehr am Herzen liegen, handelt auch dieser Beitrag wieder von diesem Thema. 

Über den Weg gelaufen und in den Schoß gefallen – wie reife Äpfel vom BGE-Baum sozusagen – sind mir die untenstehenden Inspirationsquellen zum Thema Faulheit und Müßiggang. Sie sprechen mir aus dem Leben und aus dem Herzen, und ich lege sie jedem, der mag, an seins – auch und gerade im Zusammenhang mit all den persönlichen, gesellschaftlichen und globalen Fragen, die sich rund ums BGE, rund um die Zukunft dieser Gesellschaft und der menschlichen Spezies stellen: Was bedeutet Menschsein für mich? Welche Werte will ich hier eigentlich schöpfen, mit meinem Tun und Sein? Was sind meine Bedürfnisse, und was für ein Leben finde ich lebenswert? Wie wollen wir miteinander umgehen? Welche Art von Wachstum wollen und können (!?) wir uns hier künftig erlauben, persönlich, sozial, wirtschaftlich und ökologisch? Und so sind „Muße“ und „Faulheit“ auch längst keine Exklusivthemen für Philosophen, Künstler, Aussteiger oder moderne Dandys mehr, sondern treffen ziemlich genau den Zeitgeist. Denke, hoffe, träume ich jedenfalls.




„Ich habe mich oft gefragt, ob nicht gerade die Tage, die wir gezwungen sind, müßig zu sein, diejenigen sind, die wir in tiefster Tätigkeit verbringen?“ (Rainer Maria Rilke) 

Und welch ein Segen könnte es erst sein, wenn Müßiggang nicht erzwungen, sondern ermöglicht oder selbst gewählt ist?

Muße. Müßiggang. Faulheit. Trägheit. Treibenlassen. Entschleunigung. Träumerei. Spiel. Langsamkeit. Innehalten. Nachdenken. Kontemplation. Spüren. Ruhe. Meditation. Stille. Nicht(s)tun. Poesie. Lebenskunst. So viele Wörter und Stimmungen, die leider so gar nichts mit dem zu tun haben scheinen, was seit einigen Jahrhunderten als „Norm“ über dieser Gesellschaft schwebt: die dicke und oft dunkle Wolke der Arbeits-, Leistungs- und Fortschrittsfron – als gäbe es kein Morgen (und kein Heute!). Dennoch oder gerade deshalb haben wir die Muße-Qualitäten so nötig wie die Luft zum Atmen und das tägliche Brot, finde ich. Glückliche „Arbeitslosigkeit“ also, ein natürliches Element des Lebens, ein Sein-Lassen und auch ein stiller Protest gegen das, was unsere „Zivilisation“ in großem Maße (noch?) prägt. Gewissermaßen kann man Nichtstun sogar als Leistung verstehen, nämlich als äußerst wertvolle, schlicht unbezahlbare Gegenkraft oder, sagen wir, als sanften Gegensog zu totaler Ökonomisierung, Taktung und Funktionalisierung von Mensch und Natur. Als Statement für Lebensqualität, Freude, Zufriedenheit und Freundlichkeit im Gegensatz zu den Auswüchsen des Turbo-Kapitalismus: Geld- und Arbeitsideologie, Angst, Leistungsdruck, Konkurrenz und Neid, Ausbeutung und Abzocke, Routine, Bequemlichkeit und Heuchelei, Unzufriedenheit, Stress, innere Leere und Rastlosigkeit, Burn- und Bore-out, Depression, Konsum-, Überfluss- und Wegwerfwahnsinn. Etwas weniger drastisch ausgedrückt, lassen sich Müßiggang & Co. schlicht als Einladung zu einer gesunden individuellen Balance verstehen: zwischen „Arbeit“ und „Freizeit“, „Tun“ und „Nichtstun“, „Norm“ und „Verrücktheit“. In dieser Schwebe lassen sich zuweilen erstaunliche Entdeckungen machen. (Zum Beispiel, dass frei verfügbare Zeit, Langsamkeit, Genügsamkeit und auch eine gewisse Sesshaftigkeit der neue Wohlstand sein könnten. Keine Armut, kein Abstieg“, keine Askese, sondern purer Luxus und Genuss!)

Müßiggang – ob 30 oder 300 Minuten am Tag, ob als Vollzeit-Lebensform für eine Weile oder auf Dauer, ob mit „eigenem“ Geld „verdient“, von Mäzenen (hier: Lebenskunstförderern) oder durch Steuergelder gesponsored – halte ich deshalb schlicht für eine überlebenswichtige Oase in einer von der Verwertungslogik verödeten Gesellschaft. Wahrscheinlich ist „Müßiggang für alle“ weder mehrheitsfähig noch wünschenswert, dennoch wünsche ich mir, dass sich die Wasserquellen weiter ausbreiten, auf verschiedenste Weisen, um dieses Land fruchtbarer, bunter und entspannter zu machen. In einem solchen Klima, wie gut ließe es sich da für uns alle leben, welche köstlichen Früchte könnten da gedeihen? Die Chancen stehen heute eigentlich unglaublich gut, da wir materiell so produktiv und übersättigt sind wie nie zuvor, die immaterielle Wertschöpfung hingegen meist viel zu kurz kommt. Nutzen wir doch die Gelegenheit – einfach indem wir die dubiosen Heilsversprechen des kräftezehrenden „Fort-Schritts“ (wovon? wohin?) verstreichen lassen. Müßig, unerhört und ungehört … :)

„Faulsein – Anleitungen zum Müßiggang“: verschiedene Beispiele und Stimmen, ORF-Sendung (2011)
https://www.youtube.com/watch?v=VNwBAyRO9qM

Verein zur Verzögerung der Zeit (in der Doku erwähnt): 
http://www.zeitverein.com/

„Weniger arbeiten – mehr leben“: Einblicke in das Leben des Müßiggängers Felix Quadflieg aus Bremen, WDR-Sendung (2013)
https://www.youtube.com/watch?v=kazLxiXE3zw

Otium – Verein zur Förderung des Müßiggangs (von Felix gegründet):  
http://www.otium-ev.de/start/index.htm

„Hauptsache Arbeit – Glückliche Nichtstuer“: Einblicke in das Leben der Müßiggänger Jochen Picht und Axel Braig, ARD-Sendung (2007)
https://www.youtube.com/watch?v=UclOl6pcyAc 


„Arbeit: Segen oder Fluch?“ (Sendung vom SWR/BR-alpha, 2014)
https://www.planet-wissen.de/video-unsere-arbeit---segen-oder-fluch-100.html 


Kinofilm „Frohes Schaffen – Ein Film zur Senkung der Arbeitsmoral“ (2013)
https://www.youtube.com/watch?v=6vSHtA8CGjU (Trailer)
https://www.youtube.com/watch?v=3FF1PdNh8NM (Gespräch mit dem Regisseur Konstantin Faigle, ZDF aspekte)

„Sinn und Wert von Faulheit und Verweigerung“: Vortrag von Alfried Längle, Psychotherapeut und Arzt (2015)
https://www.youtube.com/watch?v=Ch692SjEOD4

„Ausgebrannt vom Nichtstun“: Bore-out am Arbeitsplatz als ein Mix aus Langeweile, Unterforderung, Desinteresse, Nichtpassung und dem Vortäuschen, zu arbeiten (Audio-Beitrag, 2018)
https://www.youtube.com/watch?v=Gf2_G_xu2p0

Buch „Die Kunst, weniger zu arbeiten“ von Ulrich Renz und Axel Braig (2001)
http://arbeitswahn.de/kunst.php
Hier wird u. a. der Vorschlag gemacht, sogenannte Arbeitslose nicht länger zu stigmatisieren und zu Arbeit anzutreiben (egal wie sinnlos oder schädlich sie sein mag), im stumpfen Glauben, es gäbe keinen Sinn ohne Arbeit, ergo auch keine Arbeit ohne Sinn (mir läuft es kalt den Rücken runter, wenn ich das lese und schreibe). Stattdessen sollten wir den Arbeitslosen, -freien, -scheuen oder -reduzierern dankbar sein – immerhin überlassen sie den Arbeitsverliebten das Feld und helfen den Unternehmen beim Gewinnemachen – und ihnen eine Art Stilllegungsprämie zahlen. Ich würde es vielleicht eher „Stipendium“ nennen, das klingt irgendwie respektvoller, aber das Wort spielt im Grunde keine Rolle. Also, ja, wunderbare Idee! So könnten diese Glücklichen einfach in Ruhe Vollzeitmenschen sein statt auf Arbeitstiere, Wirtschaftssubjekte und Konsumsklaven reduziert zu werden oder sich selbst dazu zu erniedrigen. Sie könnten vom Wunder des Lebens kosten, statt in der Tretmühle des Wirtschaftswunders zu strampeln. Das ist doch genau die Art von „Wertschöpfung“, die hier fehlt, oder nicht? Oder von mir aus einfach irgendeine gesündere Balance zwischen materiellem und immateriellem Wachstum. Anderenfalls dürfte die Erde uns Menschlein sowieso bald abwerfen, dann ist das von verschiedenen Denker*innen schon lange prophezeite und heute immer realistischere „Ende der Arbeit“ eben auf diese Weise erreicht. Mir wäre eine andere Version der Geschichte lieber. 


Oder zur Geschichte der Arbeitsreligion: vom Ideal des Müßiggangs bei den alten Griechen zur heutigen Leistungsgesellschaft – wie konnte das passieren? Warum haben wir immer mehr Maschinen erfunden, die uns die Arbeit abnehmen, aber an deren Stelle zahllose unsinnige neue Jobs gesetzt? Damit wir unermüdlich weiterarbeiten dürfen oder müssen, weil uns nichts Besseres einfällt? Es scheint, als stünde die Tür zum Paradies längst offen, aber wir drehen ihr den Rücken zu, treiben uns gegenseitig an und machen uns das Leben zur Hölle. Lieber würden wir vor den Toren des Schlaraffenlandes verhungern, als uns selbst und gegenseitig ein gutes Leben zu gönnen? Es ist also höchste Zeit, Arbeit und Einkommen voneinander zu lösen (genau dafür steht das BGE). „Die mit einer Tätigkeit verbundene Anerkennung darf nicht mehr allein an einen Erwerbsplatz gebunden sein. Wir hätten rechtzeitig die Bilder von einem lebenswerten Leben revidieren müssen. Stattdessen schleppen wir diese einfältige Verkoppelung von Arbeit, Einkommen und Lebenssinn aus der Geburtsstunde der Industriekultur bis ans Ende dieses Jahrtausends mit.“ – die Literaturprofessorin und Unternehmensberaterin Gertrud Höhler im Focus vom 22.01.1996 (!), zitiert im obigen Buch. Ist zwanzig Jahre später alles nur noch schlimmer und jede Hoffnung vergebens? Endet die Höllenfahrt zwangsläufig im Totalcrash, oder ist jetzt endlich, endlich Zeit für einen heilsamen Umschwung?

Buch „Die Tyrannei der Arbeit“ von Ulrich Renz (2013)
http://sefa-verlag.de/sefa_arbeit.php
„Auch deshalb lade ich zu einem neuen Blick auf das Thema Arbeit ein. Unsere Gesellschaft kann noch eine ganze Menge Unproduktive, Aussteiger, (Lebens-)Künstler, Privatgelehrte, Freaks, Gelegenheitsjobber, Langzeitstudenten, Globetrotter, Rumtreiber, Hausfrauen und Hausmänner, Privatiers, Hippies, Punker, Spontis und sonstige Minderleister vertragen, aber nur wenig mehr hyperaktive ‚Leistungsträger‘, die auf ihrer Jagd nach ‚Erfolg‘ das Letzte aus sich und unserer Welt herausholen und in Gewinn verwandeln.“ (aus dem Vorwort)

Krautreporter-Artikel „Ich brauche Langsamkeit“: Aus dem Leben des (Lebens-)Künstlers Jens Risch aus Berlin (2017). Wunderfein <3.
https://krautreporter.de/2149-ich-brauche-langsamkeit?shared=eyJzaGFyZWRCeSI6IkRvcm90aGVhIEdydd8ifQ==
(Krautreporter ist eine kraut-, äh crowdfinanzierte, genossenschaftliche Form des Journalismus, mit Zeit für Hintergründe und eigene Haltungen, mit Einbindung der Leser bzw. Mitglieder, ohne Werbung.)


Ich-AG „Demotivationstrainer“ (Text von Guillaume Paoli, 2008)
http://guillaumepaoli.de/demotivationstrainer/
Guillaume Paoli erzählt, wie er eines Tages „in die Selbständigkeit entlassen“ wurde und beim Vorsprechen im Arbeitsamt den Beruf des Demotivationstrainers erfand. Köstliche Gedanken.

Gespräch mit den „Glücklichen Arbeitslosen“, einer ehemaligen Initiative aus Berlin (wobei „Initiative“ es nicht wirklich trifft, und auch die Beschränkung auf den Ort Berlin nicht stimmt)
http://www.evolutionaere-zellen.org/html/finger/finger8_12/finger10/organisiere.html

Manifest der Glücklichen Arbeitslosen
http://www.satt.org/gesellschaft/glar_1.html

Wir wissen alle, daß Arbeitslosigkeit nicht abgeschafft werden kann. Läuft der Betrieb schlecht, dann wird entlassen, läuft er gut, dann wird in Automatisation investiert und auch entlassen. In früheren Zeiten wurden Arbeitskräfte gefordert, weil es Arbeit gab. Nun wird verzweifelt Arbeit gefordert, weil es Arbeitskräfte gibt, und keiner weiß, wohin mit ihnen, [...]

Buch „Mehr Zuckerbrot, weniger Peitsche“, hrsg. von Guillaume Paoli (2002)
http://www.deutschlandfunk.de/guillaume-paoli-hg-mehr-zuckerbrot-weniger-peitsche-aufrufe.730.de.html?dram:article_id=101990
Gerade weil Geld das Ziel ist und nicht gesellschaftlicher Nutzen, existiert Arbeitslosigkeit.
Aber natürlich kann nicht von Arbeits-, also Tätigkeitslosigkeit die Rede sein – hier wäre ohnehin erstmal zu klären, wo Nichtstun aufhört und Tun anfängt. Nein, Arbeitslosigkeit ist in unserer Gesellschaft schlicht Einkommens- bzw. Geldlosigkeit. Arbeit, Betätigungsfelder und eben auch Mußemöglichkeiten gibt es zuhauf ... Wir müssen, sollten, dürfen sie bloß wiederentdecken. Wann, wenn nicht jetzt? 

Last, but not least – auch wenn diese Liste schon überlang ist, was aber nur zeigt, wie viel Inspirationsmaterial und -bedarf es offensichtlich zu diesem Thema gibt –, sei das Buch Und, was machst du so? Fröhliche Streitschrift gegen den Arbeitsfetisch von Patrick Spät (2014) empfohlen. Flott geschrieben, erschreckende und anregende Gedanken, Zahlen, Daten und Fakten zum Thema ...
https://rotpunktverlag.ch/titel/und-was-machst-du-so